Marmorhallen - Teil 1 - Zwergenmanieren

Mit der gesunden Hand krallte Nîn sich mit rasendem Herzen in das Holz des Tisches hinter ihr. Der Schmerz pulsierte dumpf in ihrem geschienten Handgelenk und die abschätzenden Blicke des Elben auf ihrer Narbe brannten wie Feuer in ihrem Herzen. Hals und Kehle hatte sich zusammengezogen um bloß kein Wimmern oder Schmerzenslaute preis zu geben, doch Zorn übermannte ihren Schmerz und schaffte erneute Kontrolle über ihren Körper. Wenn Morwe wieder auf einem seiner Drogentripps war, würde sie ihm dieses Mal nicht verzeihen, doch die kalte und mordlüsternde Art und Weise, wie er zuvor zu dem Elben gesprochen hatte, weckte in Nîn ganz andere böser Vorahnungen. „Eine ganz einfache Frage:“ Der schwarzhaarige Elb beugte sich mit seinem Gesicht nah an das von Nîn heran, als wäre sie niemand, dessen Zorn man fürchten müsste. „Bist du blind?“ Belustigt und interessiert wedelte er mit seiner Hand vor ihrer verletzten Gesichtshälfte herum und wandte dabei den starrenden Blick keinen Moment von ihrer Entstellung ab.
Das war zu viel für die junge Zwergin. Die Hand, mit der sie den Tisch hinter sich umklammert hielt wanderte ein kleines Stück nach oben und schloss sich um eine der angerichteten Zitronen, die dort lagen. „Nein, leider nicht. Gegenfrage:“ Die Elben in der Halle hatten sie trotz ihres Protest nicht bemerkt, also ließ Nîn in dieser heimlichen Ecke alle Vorsicht fahren. Höflichkeit hin oder her, doch sie würde sich nicht hilflos den brutalen Gelüsten ihrer Gastgeber hingeben. Mit der Schnelligkeit einer zornigen Viper schnellte ihre gesunde Hand nach vorne, mit der saftigen Zitrone voran und traf den Elben mitten ins Auge. „Bist du es?“ Sie zog die Nase hoch und atmete tief durch. Schmerz wurde durch herausgelassenen Zorn doch gleich um einiges erträglicher.

Elûdin sah gerade noch die Hand der Zwergin vorschnellen, jedoch konnte er nicht mehr tun, als seine Lider fest zusammenzudrücken. Säure setzte sein linkes Auge in Flammen. Er stolperte einen Schritt zurück und presste sich den Ärmel aufs Gesichts. Zwischen zusammengebissenen Zähnen versuchte er seine Atmung zu kontrollieren, um ja keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Seine Finger krallten sich in seine Stirn, doch es gelang ihm Haltung zu bewahren. Aus seinem unversehrten Auge heraus schoss er dem hinterhältigen Wurm vor sich einen vernichtenden Blick zu.
Das wirst du noch bereuen...! Vielleicht nicht hier und auch nicht heute, aber in nicht allzu ferner Zeit würde ihr das noch Leid tun...!
Elûdin hob die zu Boden gefallene Zitrone auf und warf sie kurzerhand aus einem geöffneten Fenster unweit von ihnen. Der Schmerz in seinem Auge fraß sich bis tief in seinen Kopf.
„Dein überschäumendes Temperament wird dich früher oder später noch in Schwierigkeiten bringen...“, knurrte er um Beherrschung ringend hervor. "Und jetzt spuck aus, was du mit meinem Bruder zu schaffen hattest!"

Mit einem kriegerischen Blick verschränkte die Zwergin die Arme vor dem Oberkörper und regte das Kinn in die Höhe, um sich von Eludins zorniges Augen nicht unter kriegen zu lassen, die jetzt deutlich sichtbar einen Kontrast zu Morwes schusseligen aber nachsichtigen Ausdruck darstellten. „Was ich mit ihm zu schaffen hab? Nun, wenn es nach den beiden Möchtegern-Spitzeln geht, soll er wohl in meiner Nähe bleiben um mir bei Gelegenheit den Kopf abzuschlagen, für den Fall, dass ihm vorher nicht eine Tür im Weg steht. Aber wenn du lieber Informationen aus einer etwas vertraulicheren Quelle haben möchtest, warum fragst du ihn dann nicht selbst? Mir wirst du ja ganz sicher nicht trauen.“ Mit einem vielsagenden Schmunzeln und Kopfnicken deutete sie über Eludins rechte Schulter hinweg zu der Menge. Morwe war zwar nicht da, aber das würde Eludin ja wohl kaum wissen und zum anderen sah er auf dem ihr dann zugewandten Auge nichts. Also die beste Möglichkeit für einen taktischen Vorstoß in rückwärtige Sektoren.

"Sehr richtig. Und deshalb fällt es mir auch nicht ein dir die Chance zu geben dich davonzumachen.", erwiderte Elûdin trocken. Er blinzelte vorsichtig mit dem linken Auge, aber seine Sicht auf dieser Seite war trüb. Besser er täte daran es gründlich auszuwaschen, bevor er tatsächlich an Sehkraft einbüßte. Aber im Moment konnte er dieses kleine gemeingefährliche Ungeheuer unmöglich hier alleine herumrennen lassen. Am Ende stellte sie sich vielleicht doch noch als Spitzel heraus.
"Solltest du nicht eigentlich an Herrn Elronds Tafel sitzen, anstatt hier herumzuscharwenzeln?"

Nîn schluckte. Dieser Elb …. dachte nach.
Schreckliche Erkenntnisse drangen tief in Nîns Bewusstsein ein und ließ ihr Herz in Richtung Stiefel rutschen. Mit Kleinigkeiten wie die Dinge, die bei Morwe bereits Wunder bewirkten, schien man bei seinem Bruder trotz der überwältigenden Ähnlichkeit nichts bewirken zu können.
Etwas gedämpft in ihrem Elan versuchte sie sich nichts anmerken zu lassen. „Ich scharwenzel nicht, ich schaue mir nur das Fest an, wie es mir geraten wurde. Und um deinen Gelüsten gleich schon zuvor zu kommen: Auf deinen erneuten Geleitschutz kann ich mit Sicherheit verzichten!
Doch lass mich dir eine Frage stellen:“ Nîn versuchte so tief wie möglich in die Trickkiste zu greifen. Anhand von Reaktionen und Verhalten spekulative Vermutungen anzustellen, hatte sie in Bree zumindest schon vor so manchen Wachen bewahrt. „Wenn hier zwei Elben herum laufen, die es ganz offensichtlich auf deinen geliebten Bruder abgesehen haben und ihm nicht gerade freundlich gesinnt sind, solltest du dann als“, sie musterte ein Stück des schimmernden Harnisches, der unter seiner verrückten Robe hervor stach, „Wache im Dienst und treuer Familienangehöriger nicht besser daran tun, sie aufzuhalten? Jedenfalls eher das, als eine Person zu bedrohen, von der ihr Aufpasser es wohl für gefahrlos erachtet, sie alleine herum laufen zu lassen. Es sei denn natürlich, du stellst genauso wie Lómion ganz offen Morwes Auffassungsgabe in Frage, die er sich über mich nach über zwei Tagen zusammenleben gebildet hat.“ Mit hochgezogenen Augenbrauen starrte sie Eludin erwartungsvoll an. Immerhin hat er mich ausreden lassen, also möge Mahal hoffentlich verfügen, dass meine Vermutungen, wie er zu Morwe steht, nicht ganz so abwegig sein mögen...

Ein Lächeln zuckte über Elûdins Lippen. Er hob eine Braue. "Ich bin beinahe versucht zu sagen, es war ein netter Versuch. Aber auch nur beinahe.", er trat etwas näher an die Zwergin heran. "Allerliebst diese Annahmen. Was die Einschätzung Morwes bezüglich deiner Person angeht, denke ich, er hat dich nicht ganz freiwillig aus den Augen verloren. Entweder bist du weggelaufen oder er-", rechtzeitig biss Elûdin sich auf die Unterlippe, um nicht weiterzusprechen. Es stand ihm nicht zu die Kompetenzen seines Bruders in der Öffentlichkeit in Frage zu stellen und zu mutmaßen, er sei unachtsam gewesen. "- Nun, du bist abgehauen.", Elûdin räusperte sich.
Mit verschränkten Armen fixierte er die Zwergin unnachgiebig. "Es gibt jetzt zwei Möglichkeiten: Erstens, du widersetzt dich und ich werde die Wachen rufen, oder du kommst freiwillig mit mir und ich bringe dich zu-" Er stockte für einen Sekundenbruchteil, als ihm bewusst wurde, dass er sie nicht zu Elrond bringen konnte, ohne Morwe sein Gesicht verlieren zu lassen. "- meinem Bruder, damit er dich zu deinem Platz an der Tafel unseres Herrn führen kann."

Nîn setzte eine geschäftliche Mine auf. „Wenn du die Wachen erst rufen musst, nehm' ich an, dass ich dich als Ehrenmann außerhalb deiner Dienstzeit angetroffen habe, was dich genaugenommen nicht dazu befugt mich gegen meinen Willen abzuführen. Aber sei es drum. Angenommen ich lasse mich auf dieses Spielchen ein und gestatte dir, dass du mich zurück zu meiner Begleitung führen kannst,...“ Eludin zog erneut eine Braue nach oben, „...beinhalten deine Vertragskonditionen dann, dass du die Person, die nur auf Elronds ausdrücklichen Wunsch auf dieser 'Festlichkeit' erschienen ist, wieder durch die Gegend befehligen kannst, wie einen Schwerverbrecher? Oder möchtest du mich womöglich einfach nur wieder liebevoll an meinem gebrochenen Handgelenk fassen, um mir mit aller Ruhe und Gemütlichkeit die Räumlichkeiten dieses Hauses zu zeigen?“ Ihr Blick wanderte über die leere Ecke in der sie standen. „...wahlweise die Räumlichkeiten in denen es keine Zeugen gibt...“ Sie schenkte Eludin ein schiefes Lächeln, während sie ihn mit durchdringendem Blick von unten herauf mussterte.

Für einen Augenblick ertappte sich Elûdin bei dem Gedanken daran die letzte Möglichkeit durchaus in Betracht zu ziehen.
"Mit wie viel Würde du an Herrn Elronds Tafel erscheinst, bleibt ganz dir überlassen.", war alles, was er auf das Geschnatter der Zwergin erwiderte. "Also?"

Nîns Arme lösten sich aus der Verschränkung und sie gab die Hoffnung auf, Eludin an der Nase herum führen zu können. All das, was Rínon oder Morwe wohl an Scharfsinn abhanden gekommen war, hatten sie wohl an ihn im Austausch für Gutmütigkeit abgetreten, bis in Eludins Herzen nichts Tauschbares mehr übrig geblieben war. „Du meinst wohl eher, dass im Bereich 'Würde' nach unten hin wohl noch alles offen ist...“ Gerade, als sie sich mit einem Seufzer resignierend in Bewegung setzen wollte, weckte eine graue Gestalt in der Menge ihre Aufmerksamkeit. Die Zwergin blieb erfreut neben Eludin stehen, der sich seinerseits ebenfalls zum Gehen wandte und ihr dabei sowohl fest als auch bestimmend die Hand wie ein Schraubstock knapp über ihrer Schulter an den Hals legte, damit sie auch ja nicht Anstalten machen konnte, zu fliehen. „Lindir!“ Mit einem breiten Lächeln hob Nîn den Arm in die Luft und winkte, damit Lindir sie sehen konnte. Voller Freude schritt er auf die Beiden zu. „Sieht wohl aus, als wäre ich gefunden worden. Elronds Dank sei dir gewiss, doch jetzt bedarf ich deiner Hilfe nicht mehr.“ Mit einem Lächeln versuchte sie sich von dem Elben zu verabschieden und sich los zu winden, doch der schwarzhaarige Elb verstärkte mit einem gekünstelten Lächeln seinen Griff nur noch ein Stückchen mehr, sodass seine Fingerspitzen sich mit Nachdruck in Nîns Hals bohrten, und zog sie zurück an seine Seite. „Hättest du wohl gerne.“ Nîns leicht verkrampftes Lächeln wurde noch ein Stückchen breiter, dank der festen Überzeugung mit nichts hinter Eludin zurück zu stehen. Lindir löste sich aus der Menge und eilte vollkommen außer Atem auf das ungleiche Paar zu. Je mehr Nîn sein Gesicht erkennen konnte, desto größer schien der überraschte und fragende Ausdruck in seinen Zügen zu werden. Sie warf dem ebenfalls freundlich lächelnden Eludin ein immer breiter werdendes Grinsen zu, während der Druck seiner Fingerspitzen kaum noch zu ertragen waren und legte dann ihren gesunden Arm um seine Hüften. Während sie noch liebevoll ihren Kopf an ihn lehnte, als wären sie langjährige Freunde, hätte sie zu gerne gewusst, ob sein Lächeln dabei genauso gezwungen wurde, wie das ihre, doch da sie aus ihrem Blickwinkel nur Lindirs erschöpfte Gestalt auf sie zueilen sehen konnte, würde sie das wohl kaum jemals erfahren.

Kaum dass Lindir seinen Blick auffing, ließ Elûdin sein falsches Lächeln sinken und starrte den Diener Elronds missgelaunt an.
"Verzeiht bitte, mein Herr Elûdin.", Lindir setzte eine schuldbewusste Miene auf und verbeugte sich erst vor ihm und dann vor der Zwergin. "Und Ihr möget unsere Unaufmerksamkeit vergeben, dass wir Euch verloren haben! Ich hoffe, Ihr ward nicht in zu großer Sorge."
Elûdin entging der irritierte Gesichtsausdruck Lindirs nicht, ob ihrer merkwürdigen Umarmung, weshalb er anmerkte: "Es wäre zu freundlich von Euch, wenn ihr unserem Gast beizeiten das eine oder andere über persönliche Distanzzonen erläutern könntet, denn wie mir scheint ist sie reichlich unerfahren, was derlei Dinge angeht. Oder aber es ist ihr Wunsch mich zu provozieren. In jedem Fall solltet Ihr ihr Benehmen beibringen." Damit ließ er sie los und schubste sie in Lindirs Richtung.
"Wenn Ihr mich entschuldigen wollt, ich habe noch Pflichten, denen ich nachgehen muss."

Nîn landete in Lindirs Armen und ihr Lächeln erstarb augenblicklich, sobald sie aus Eludins Reichweite verschwunden war. Sie hörte, wie er sich entfernte und traute sich zaghaft ihre Schultermuskulatur zu begutachten. Ihre Haut machte mit ihrer Rötung der Farbe der kandierten Tomaten Konkurrenz, wenn da nicht die weißen Abdrücke wären, die Eludins Finger nachdrücklich hinterlassen hatten, und die langsam eine leichte Blau- bis Grünfärbung annahmen. Jetzt, da die Gefahr vorüber war und Nîns Adrenalinpegel sich etwas absenkte, fiel es ihr umso schwerer gegen das Bleigewicht in ihrem Brustkorb anzukämpfen. Ihr Handgelenk pochte noch immer, wenn auch nur noch schwach, doch für einen Tag war sie ihrer Meinung nach endgültig genug hin und her geschubst worden. „Ja, zum Beispiel sich neue Grausamkeiten auszudenken, an denen er sich auf meine Kosten erfreuen kann.“ Der arme Lindir schien etwas überfordert mit der kurzen Konversation mit den beiden Parteien zu sein, denn er hatte zwar den Mund aufgeklappt, doch kamen keine Wörter aus ihm heraus. Wenigstens hatte er daran gedacht, Nîn los zu lassen, nachdem sie sich wieder von ihm weggedrückt hatte. „Was ist passiert?!“ Morwes Stimme tauchte an ihrer Seite auf und die Zwergin zog schlagartig den Kragen ihres Mantels enger, damit Morwe die schmerzhaften Abdrücke an ihrem Hals nicht zu Gesicht bekommen konnte. Sie atmete einmal tief durch um sich wieder ein Lächeln aufzuzwingen, bevor sie sich fröhlich zu Eludins Ebenbild umwandte, das mit besorgtem Blick zu ihr und Lindir aufgeschlossen hatte. „Wir haben uns nur ein wenig amüsiert.“ Mit einem glücklichen Lächeln hielt sie sich fest an der Seite von Morwes Umhang fest, bevor sie ihn in diesem Labyrinth noch einmal verlieren konnte. Sie beugte sich gekünstelt ein Stück weit zu seinem Ohr, um noch mit einem verschwörerischen Flüstern hinzuzufügen: „Erlaubst du mir, dass ich deine persönliche Distanzzone etwas überschreite?“

Alles, was Morwe vom Umgang in der oberen Etage aus hatte sehen können, war, dass Elûdin und Nîn sich in der Ecke miteinander unterhalten hatten. Vielmehr schien die Körpersprache der Zwergin auf eine Diskussion hinzudeuten. Wahrscheinlich war seinem Bruder ein Dorn im Auge gewesen, sie ohne Begleitung zu sehen, und war vermutlich der Ansicht, sie würde herumschnüffeln oder spionieren. Wie der Begriff 'persönliche Distanzzone' in diese Unterredung gepasst hatte, wollte Morwe eigentlich lieber nicht wissen, doch es war definitiv ein Ausdruck aus Elûdins Wortschatz, den Nîn hier aufgegriffen hatte.
"Es ist mir nur recht, wenn du dafür nicht wieder verloren gehst.", wisperte er zurück. Als Lindir ihnen den Rücken gekehrt hatte und voraus ging, beugte Morwe sich etwas hinunter, um leise hinzuzufügen: "Bist du zufällig in ihn hinein gelaufen oder hat er dich mit Absicht gefunden?"
Sie mussten innehalten, da sich im Treppenhaus inzwischen ein leichter Stau gebildet hatte.

Sie zwinkerte ihm schlemisch und mit einem aufgesetzten Lächeln zu. „Was redest du da? Wir waren verabredet! Hast du nicht gemerkt, wie wir uns schon die ganze Zeit seit meiner Ankunft heimliche Liebesbriefe schreiben?“ Neben ihr blieb ihr Begleiter stehen und als sich die Unterkörper der Elben vor ihr verdichteten, verstärkte Nîn mit ihrer gesunden Hand den Griff an Morwes Umhang. Ängstlich drückte sich die junge Zwergin dabei an seine Seite. Eher würde sie freiwillig und unbewaffnet in eine Horde von Orks rennen, als noch einmal alleine zwischen den realitätsverdrehenden Baumschmusern aufzuschlagen.

Morwe fühlte seinen Mund sich öffnen, doch mehr als ein Strom warmer Luft und ein halb ersticktes Gurgeln verließen ihn nicht. Irritiert registrierte er, wie sich der Griff der Zwergin um seinen Umhang verstärkte. Glücklicherweise waren die Gäste um ihn herum zu abgelenkt, um seine würdelose Reaktion zu bemerken.
"Wenn er dir Morddrohungen geschrieben hätte, wäre ich weit weniger beunruhigt...", hüstelte Morwe, doch selbst seine Vorstellungskraft versagte bei dem Gedanken, sein Bruder könne einer Zwergin hinterherschmachten... Selbst wenn es nur ein Scherz war.
Heimlich schielte er zu Nîn hinab, um einen Blick auf ihren Hals erhaschen zu können. Morwe war nicht entgangen, wie sie bei seiner Ankunft rasch ihren Kragen hochgezogen hatte. Außerdem war die Zwergin auffallend unbekümmert, was die Begegnung mit seinem Bruder anging. Aber bei all den wabernden Schatten, welche die hier Anwesenden warfen, konnte er nicht ausmachen, ob Nîn vielleicht doch verletzt war oder irgendeine Blessur davongetragen hatte.

„Mmmh.... so rein hypothetisch gesehen: Er hätte das gemacht...“, instinktiv griff Nîn sich an die unangenehm schmerzende Schultermuskulatur, während sie versuchte durch die flatternden Umhänge hindurch was zu erspähen. „Wieso wärst du es dann weniger? Er kommt mir nicht unbedingt wie einer der bellenden Hunde vor, die nicht beißen.“ Die Zwergin gab es auf nach etwas Ausschau zu halten und sah stattdessen zu Morwe hoch, der sie mit einem merkwürdigen Blick musterte. Erst jetzt bemerkte sie, wie ihre Hand zu ihrem Hals gewandert war und deshalb ging sie sich in einer flüssigen Bewegung über den Nacken und fahrig durch das Haar, um das Ziel dieser Bewegung vor seinen Augen zu verschleiern. Für Morwe sollte das reichen.
Nîn musste grinsen. „Oder hast du nur Angst davor, was dein verliebter, großer Bruder mir so alles über dich erzählen könnte?!“

Also hat er ihr doch gedroht...
Es war nur ein Sekundenbruchteil, den Nîns Hand zu lange an ihrem Nacken verweilte, aber er entging Morwe nicht. Gedanklich machte er sich eine Notiz die Zwergin kurz zur Seite zu nehmen, bevor sie sich an die Tafel setzen würden. Allerdings war er sich trotz seines aufkommenden Unbehagens sicher, dass Elûdin ihr nicht wirklich gedroht haben konnte, jedenfalls nicht mit dem Tod, denn er war weder ein Dummkopf, noch litt er an mangelnder Impulskontrolle. Er würde der Zwergin nichts ernsthaftes antun ohne Morwes Segen dazu zu besitzen.
Er tat so, als wolle er sich etwas von den Stiefeln streichen und beugte sich zu Nîn hinab, damit ihnen niemand ungebeten lauschen konnte. "Nun, ich wäre beruhigter, da ich dann davon ausgehen könnte, er sei noch zurechnungsfähig. Zu erahnen, was ein Wahnsinniger vorhat, gehört nicht unbedingt zu meinen Stärken... Und im übrigen...", Morwe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. "...sollte mein kleiner Bruder eher fürchten, was ich über ihn erzählen könnte."

Das Grinsen der Zwergin wuchs weit über beide Ohren hinaus. Niemals hätte sie damit gerechnet, das jemand wie Morwe älter wäre wie jemand wie Eludin, doch sie wollte diese Aussage in ihrem Kopf gar nicht erst weiter hinterfragen, sondern nur die Möglichkeiten genießen, die diese bot. Elbenhirarchie mochte sich wie vieles von Zwergenbräuchen unterscheiden, doch dass der Ältere ein gewisses angeborenes Vorrecht gegenüber des Jüngeren hatte, lag in ihrer aller Natur, wie Nîn im laufe der Jahre herausgehört hatte. Blieb nur noch abzuwarten wie geprägt dieses Vorrecht bei den Spitzohren zu sein mochte.
Ihre Angst hatte Nîn mit einem Schlag vollkommen vergessen. Verstohlen grinsend ließ sie den Blick durch den Raum wandern. „Oh, Morwe... Egal, was auf diesem Fest noch alles auf mich lauern sollte, du kannst dir noch nicht vorstellen, wie sehr ich heute an deinen Lippen hängen werde.“ Sie setzte eine halbherzige Unschuldsmiene auf. „Wenn du also irgendetwas auf dem Herzen hast, was du sicher schon lange mal jemandem erzählen wolltest... Wer weiß? Zum Beispiel alte Familiengeschichten... Ich bin dir ganz Ohr.“

Morwe grinste. Es war eine amüsante Vorstellung Nîn an den ein oder anderen Dingen teilhaben zu lassen, allein um zu sehen, wie die Reaktion der Zwergin darauf wäre. Doch er wusste, es würde bei der Vorstellung allein bleiben. Einerseits fiel es ihm noch zu schwer Nîn überhaupt einschätzen zu können, als dass er ihr zu private Informationen anvertrauen würde, andererseits war er hier in der Öffentlichkeit. Er war das Oberhaupt seiner Familie und jemanden seiner eigenen Sippe vor Fremden bloßzustellen lag ihm fern. In wie weit sich die Zwergin tatsächlich Hoffnungen machte, er würde ihr etwas erzählen, konnte Morwe schwer sagen. Ihre Miene verriet offenkundige Neugierde, jedenfalls soweit er sie zu deuten vermochte. Aber waren nicht eigentlich gerade Zwerge ausgesprochen verschwiegen, was die Geheimnisse ihrer Sippen anging? Immerhin hielten sie selbst ihre Sprache vor nichtzwergischen Ohren zumeist verborgen... Jetzt wo Morwe darüber nachdachte, konnte er nicht umhin festzustellen, dass Nîn deutlich weniger reserviert oder bärbeißig war als die Zwerge, mit denen er bisher in seinem Leben zu tun hatte oder von denen er gehört hatte. Seltsam...
"Vielleicht ein anderes Mal...", wich er schmunzelnd ihrem Blick aus.
Bevor er weitersprechen konnte, schoss jäher Schmerz durch sein rechtes Schienbein und beinahe hätte er seiner Überraschung mit einem lauten Japsen Ausdruck verliehen. Möglichst unauffällig versuchte Morwe die Stelle, mit welcher der hölzerne Stab kollidiert war, an seinem unversehrten Bein zu reiben, damit das Pochen nachließ. Er schaute mit aufgesetzter Gleichmut um sich. Sein Großvater stand unweit zu seiner Rechten nachlässig auf seinen Gehstock gestützt und lächelte gewitzt. Mit einer für seine ausgemergelte Statur überraschend schnellen Bewegung war er bei ihnen.
"Oder auch vielleicht lieber gar nicht, Morwe. Denn um der Gerechtigkeit genüge zu tun, müsste ich dann meinerseits etwas über dich verlauten lassen.", ein dünnes Lächeln umspielte Elothlonds Lippen, als er Morwe einen eindringlichen Blick zuwarf. Dann wandte sich sein Großvater Nîn zu. Die Zwergin hatte kaum merklich einen Schritt zurück gemacht und beäugte ihn misstrauisch, wie er eine angedeutete Verbeugung vor ihr machte. "Es ist mir ein Vergnügen Euch kennenzulernen, Nîn, Tochter von Rûn und Dálin. Ich sehe, Ihr tragt die Rüstung eurer Mutter mit Stolz. Eine angenehme Abwechslung, Eure Tracht, zwischen all den ewig gleichen Gewänder hier."

Die Zwergin strahlte, als ihr Herz vor Freude einen Hüpfer nach dem anderen machte. Sie ließ Morwe lächelnd los und erwiderte die Geste der Begrüßung. „Ich fühle mich geschmeichelt, vielen Dank. Verzeiht, wenn ich so offen bin, aber die ein oder andere Geschichte über Morwe würde ich natürlich auch sehr interessiert lauschen.“ Sie warf Morwe ein verwegenes Grinsen zu, der ihren Blick nur merkwürdig verkrampft erwiderte. Nîn überging das. Nichts in der Welt vermochte ihr in diesem Augenblick die Stimmung zu vermiesen. Endlich gab es jemanden mit Manieren auf diesem Fest, mit dem es auch noch möglich war, sich angenehm zu unterhalten und zwar nicht über Todesdrohungen. „Doch so groß auch meine Neugier diesbezüglich ist... Ihr kanntet meine Mutter?“ Hoffnung ließ ihr kleines Herz davon fliegen wie eines der Herbstblätter draußen im Wind. Sie biss sich auf die Zunge, um den Fremden nicht gleich mit Fragen zu überhäufen. Die Art und Weise, wie der Elb mit ihr sprach, ließ Nîn sämtliche Register in ihren Manieren ziehen. Diesmal wollte sie die Begegnung nicht in den Sand setzen. Schließlich hatte Morwe lange mit ihr geübt und sie wollte neben ihm nicht so aussehen, als hätte sie nichts gelernt.

"Es wäre vermessen von mir zu behaupten, ich hätte Eure Mutter gekannt. Diese Ehre gebührte mir nicht.", erwiderte Elothlond nachdenklich lächelnd. „Ich kannte sie so gut, wie es einer vermochte, der Herrn Elrond nahe steht und der an den Ratssitzungen und Schlachtplänen teil hatte.“
Morwe konnte sich nicht helfen, als einfach nur angespannt dazustehen und kein Wort herauszubringen. Ihm gefiel weder Nîns gespannter Blick, mit dem sie an den Lippen seines Großvaters hing, noch die unerklärliche Freundlichkeit des Letzteren. Was dachte er sich dabei? Wieso begegnete er der Zwergin so zuvorkommend, so ... wohlwollend? Elothlonds Absichten waren Morwe - wie fast immer - ein Rätsel.
Sein Großvater legte eine Hand auf sein Herz. „Was ich Euch jedoch mit Gewissheit von ihr zu sagen weiß, ist, dass mir ihr freier unbeugsamer Geist noch gut in Erinnerung geblieben ist. Sie verkörperte wahrlich das Ideal einer sorgenden Mutter. Stets stand Euer Wohl für sie an erster Stelle.“, ein versonnener Ausdruck trat auf sein Gesicht. „Einer müsste lange die Lande durchwandern, um jemanden ihresgleichen zu finden...“
Aus den Augenwinkeln bemerkte Morwe, wie sich der Stau in den oberen Stockwerken aufzulösen begann. Hoffentlich konnten sie sich gleich rasch davonmachen und Elothlond entkommen... Aber sitzt er nicht mit uns an der Tafel?, ihm drehte sich der Magen um.
Was führst du im Schilde, Großvater?

Freudestrahlend ließ Nîn Morwes schützenden Arm los und faltete die Hände zu einer Geste der Dankbarkeit. „Ihr seit zu bescheiden, mir kommt es so vor, als wäret ihr durchaus eine bedeutende Person ihres Lebens hier gewesen. Ich kann mich kaum an meine Zeit hier erinnern und auch die Erinnerung an Euer Gesicht scheint mir leider mehr verschwommen als greifbar zu sein. Aber es erfreut mein Herz, nach all den Unannehmlichkeiten hier auch einmal ein paar nette Worte zu hören.“ Sie folgte seiner einladenden Geste und führte ihren Weg neben ihm fort, während sie innerlich einen Moment zögerte, um zu überlegen, welche der unendlichen Fragen sie dem freundlichen Elb zu erst stellen konnte.

Es kostete Morwe kein geringes Maß an Beherrschung seinen Mund daran zu hindern aufzuklappen. Aber da war nichts, was er tun konnte, um Nîn davon abzuhalten an der Seite seines Großvaters dem Strom aus Gästen die Treppe hinauf zu folgen. Lindir schien sich an ihrer zusätzlichen Begleitung nicht weiter zu stören und ging ihnen wortlos voraus.
„Das klingt aber gar nicht erfreulich...“, Elothlond legte mitfühlend die Stirn in Falten. „Aus Euren Worten schließe ich, dass Euch andere hier weit weniger Respekt erwiesen haben, als Ihr es verdient. Es betrübt mich, dies zu hören und dass Eure ersten Tage hier so unangenehm gewesen zu sein scheinen...“
Morwe seufzte innerlich und folgte Nîn und seinem Großvater die Stufen hinauf.

Nîn senkte peinlich berührt den Blick. „Meine Anwesenheit scheint hier nicht jedem Vergnügen zu bereiten, obgleich ich bisher nicht einmal das Haus verlassen konnte. Das ist das erste Mal, seit meiner Ankunft, dass ich gesund genug bin, um entspannt durch Bruchtal zu wandern, doch anstatt mich ein wenig umsehen zu können, scheine ich bis zu Eurem Erscheinen nur Personen zu begegnen, denen meine schiere Existenz ein gewisses Unbehagen bereitet.“ Sie lächelte tapfer den alten Elb zu ihrer Seite an. „Doch das soll mich nun nicht weiter kümmern. Bitte erzählt mir mehr von Euch. Ihr seit Mitglied des hiesigen Rates? Dann scheint ihr an diesem Ort eine durchaus wichtige Persönlichkeit zu sein.“

Elothlond lachte freimütig und winkte ab. „Ah, verzeiht bitte meine fehlenden Manieren, ich vergaß mich vorzustellen: Mein Name ist Elothlond. Doch haltet Euch nicht weiter an mir auf, ich bin lediglich ein alter Kauz. In früheren Zeiten mag ich unserem werten Herrn von Nutzen gewesen sein, aber nun...“, er nickte schmunzelnd zu seinem Gehstock. „Diese Zeiten sind  vorbei... Der Krieg fordert seine Opfer. Aber das wisst Ihr trotz Eures jungen Alters wohl nur zu gut...“
Was in Elbereths Namen hast du vor? Morwe biss sich auf die Unterlippe und lauschte gespannt auf jedes Wort, das fiel. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, wie sein Großvater sich gegenüber Nîn gebar. Außerdem hatte er nichts von seiner Herkunft oder seiner Verwandtschaft zu Morwe verlauten lassen. Offensichtlich war ihm nicht daran gelegen, dass die Zwergin sich darüber im Bilde war, wer da wirklich neben ihr stand...
„Vergebt mir, was ich sagte.“, fügte Elothlond nach einem Moment des Schweigens hinzu. „Ich will Euch nicht an die Schatten Eurer Vergangenheit erinnern. Heute soll ein fröhlicher Tag sein, ein Tag des Feierns. Wie sind Eure Pläne bezüglich des heutigen Festes? Gewiss habt Ihr vor die Hallen der Geschichten nachher zu besuchen? Und ein Spaziergang ist ebenfalls nur zu empfehlen! Die ganze Nacht über waren die Meinen eifrig bemüht die Waldpfade zu schmücken. Gewiss werdet Ihr Gefallen daran finden.“

Ein Stich war durch Nîns eifrig hüpfendes Herz gefahren bei dem Gedanken daran, wie sehr die Orkbrut ihr Leben bereits verwüstet hatte, doch sie schluckte den Schmerz nur hinunter und versuchte nicht allzu geistesabwesend zu klingen, als sie Elothlond antwortete. „... Um...Pläne zu machen, hatte ich bisher noch nicht die Zeit und Gelegenheit. Wir kamen bereits über einen Waldpfad hier hin und die Euren sollen meine Anerkennung genießen, doch sollte ich für den Heimweg doch lieber eine andere Richtung einschlagen. Aber Hallen der Geschichten?“ Die Zwergin wurde hellhörig und tastete nervös nach dem Geschenk, dass sie noch immer behutsam in der Innentasche ihres Mantels versteckt hatte. „Erzählt mir mehr davon! Ich liebe Geschichten! Meine Mutter hat mir nach ihren Reisen immer all die erzählt, die sie unterwegs gesammelt hatte. Außerdem muss ich hier noch jemanden finden, der mir bisher jedoch noch nicht begegnet ist, vielleicht ist er ja dort.“