Kapitel 3: Unerwarteter BesuchNîns Gedanken fanden nach langer Reise schließlich zu ihrem Körper zurück. Morwe saß noch immer regungslos neben ihr und auch er schien innerlich in weiten Fernen zu hängen. Es war wunderbar still geworden. Zwei Sperlinge waren auf einem Ast nicht weit von ihr gelandet und sangen vergnügt und sorgenfrei vertraute Lieder im Licht der Sonne.
Zu Hause in Bruchtal hatten schon immer Sperlinge an ihrer Häuserwand genistet und sie als Kind jeden morgen geweckt.
Zu Hause... Einer der Sperlinge erhob sich in die Luft, wo er zusammen mit seinem Freund einige Kreise zog und verschwand dann in Richtung der Berge.
Ihre Eltern hatten ihnen viele Geschichten erzählt. So sehr sie es doch versucht hatten vor Nîn zu verbergen, aber über die Verbannung aus ihrer Heimat schienen sie wohl niemals hinweg gekommen zu sein. Als das junge Zwergenmädchen damals zum ersten Mal ein Buch über die alten Zwergenrunen gefunden hatte, wollte sie ein besonders schönes Symbol in die Wand rechts neben die Tür kratzen, damit ihre Eltern auch ja zum richtigen Haus zurück finden würden. Wie sie nachher erfahren hatte, war es ausgerechnet die Abkürzung für „abad“ gewesen, was unter anderem mit dem Wort „Berg“ übersetzt werden konnte.
Seit diesem Tag, haben ihre Eltern also wieder ein glückliches Leben in einem Berg führen können, doch trotz all der Erzählungen über Schmieden und Hallen aus Stein, hatte Nîn sich niemals vorstellen können, wie so ein Ort wohl aussehen mochte.
Ein warmer Wind schüttelte die Blätterdächer um sie herum. Die Welt war im Wandel. Alles in ihrem Blickfeld bewegte sich, angetrieben von der Willkür der Natur und des Lebens. Nur das Bergpanorama im Hintergrund blieb konstant. Majestätisch und erhaben ragte die unvorstellbar hohe Ansammlung von Gesteinsmasse in die Höhe, bis sie fast den Himmel erreicht hatte.
Menschen führten ein erschreckend kurzes Leben. Es hatte Nîn niemals sehr lange an einem Ort gehalten. War sie einige Jahre fort gewesen und kam wieder, hatte sich alles verändert. Städte wie Bree hatten sich fast von Grund an neu aufgebaut, Menschen waren alt und krank geworden, Regeln hatten sich geändert. Vielleicht war das einer der Gründe gewesen, die die Zwergin immer wieder in ihrem Leben gegen ihren eigentlichen Willen zurück in die Stadt der Elben getrieben hatte. Sie war eingefroren in der Ewigkeit. Jahre konnten verstrichen sein, und dennoch waren die gleichen Gesichter da, die sie auf der Straße grüßten und die gleichen verworrenen Geschichten verstrickt waren. Doch auch dort hatte sich zu vieles geändert.
Nîn wandte leicht den Kopf, um Morwe einen Blick zuzuwerfen. Er war lange Zeit eine dieser Konstanten in ihrem Leben gewesen. Doch sehr sehr sie auch immer davor geflohen waren, als Oberhaupt einer einflussreichen Familie, hatte er nicht für immer vor Politik und Intrigen davon laufen können. Irgendwann schienen sie ihn dann doch eingeholt zu haben. Oder aber, sie waren schon immer da gewesen, nur Nîn hatte sie nicht sehen wollen? Es war unmöglich für sie zu sagen, ob es sein oder ihr Wandel gewesen war, der eines Tages diesen Keil zwischen sie getrieben hatte, doch schließlich war auch diese Stütze aus ihrem Leben verschwunden. Doch nun wirkte er dünn und farblos. Wie ein altes Blatt im Herbst, das brüchig geworden war, bis nur noch ein letzter Hauch von Struktur übrig blieb. Was war bloß geschehen? Sein Gesicht wirkte verändert und nur wenig vertraut. Die auffälligen Wappen, mit denen er sich in den letzten Jahren immer mehr geschmückt hatten, fehlten und ließen ihn so grau und unauffällig erscheinen. Vielleicht hatte er einen Weg gefunden, sich von seiner Sucht zu lösen. Oft veränderte so was Menschen, wieso sollte so etwas nicht mit Elben möglich sein? Vielleicht war sie mit dem ansteigenden Druck auf seinen Schultern schlimmer geworden oder vielleicht war er sogar ein Ersatz für sie geworden, da er nicht mehr gegen ihn ankämpfen musste, als er in ihm aufging.
Nîn kannte ihn nicht mehr. Er war ein Fremder geworden, aus dem sie keineswegs mehr lesen konnte wie in einem offenen Buch. Doch welches Schicksal hatte sie an diesem Glücklosen Ort wieder zusammengeführt? War es eine grausame Laune der Vala, die die Zwergin für etwas strafen wollten? Eine Strafe? Oder womöglich doch eine glückliche Fügung? Ihr Blick wurde magisch von der Flöte angezogen, die zwischen ihnen auf der Bank lag. Hatte Morwe sie mitgebracht? Für Nîn war sie genauso verloren gewesen, wie alles andere aus ihrem Leben.
Ihr Körper griff völlig eigenständig danach und ließ ihre Finger über das antike Holz gleiten. Die Schnitzereien in dem dunklen Holz hatten ihr schon tausende Geschichten erzählt, doch welche davon von ihrer wahren Herkunft erzählte, würde wohl immer ein Geheimnis bleiben. Dieses Musikinstrument hatte schon ihr ganzes Leben lang eine ganz besondere Anziehungskraft auf Nîn ausgeübt. Als sie noch zu klein und unvorsichtig gewesen war, um solch eine Flöte am Leben zu erhalten, hatten ihre Eltern sie stets in einer länglichen Schatulle verschlossen, auf deren Deckel mit Mosaiksteinen das Bild eines einzelnen Berges hinter einem See gebildet worden war, dessen Spitze zwischen Wolken verschwand, während er einsam in der Landschaft thronte. Später hatte sie einmal Lieder und Geschichten über diesen Berg gehört. Sie einmal erzählt zu bekommen hatte gereicht, um sie für immer in ihr Gedächtnis zu brennen, zu sehr hatten sie Nîn an die Märchen und Geschichten erinnert, die ihre Eltern immer über die Heimat der Zwerge erzählt hatten. Hallen voller Gold, ein mächtiger, alter König, der über ein immer währendes Reich herrschte. Schmiedeöfen so groß wie ein Drache! Leider schien wirklich eines Tages ein Drache gekommen zu sein, der die Städte um den Berg herum verbrannte und die Herrschaft über diese Heimat an sich riss. Es war ein schönes Gefühl, wie sich Nîns Fingerkuppen an die Löcher der Holzflöte anschmiegten.
Der Text eines Lieder fügte sich aus ihrer Erinnerung zu einer Melodie zusammen. Ein Lied in dem Zwerge davon sangen, wie sie durch Flüsse, Wurzeln und Berge den fernen Ruf der Heimat vernahmen. Obwohl diese Heimat sie niemals verlassen hatte. Sie würde auf ewig weiter existieren, tief in ihren Herzen bis tief in ihre Knochen hinein.
Nîn atmete nur. Keine Wörter bildeten sich in ihrem Hals, nur tonlose Luft gelange durch ihre Lippen nach draußen. Doch trotz allem tanzten helle, hölzerne Töne um sie herum, die von mehr Emotionen erzählten, als Worte es jemals könnten.
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https://www.youtube.com/watch?v=J5YOc5p1syo
Ich hoffe, es war eindeutig, welches Lied ich damit meinte ^^
Nur Englisch passte nicht ganz in die Szenerie...